visiting fellows

das mädchen ist verrückt geworden. ihre jetzige anschrift lautet bremen ost. sie hat zu hause das wichtige mit dem witzigen vertauscht, die pointe hat nur sie erfasst. dinge entglitten ihren händen, um die sie für gewöhnlich einen festen griff legte. sie las an sie gerichtete botschaften aus der gestempelten fahrkarte im müll, aus 2-sekunden frequenzen im fernsehen, aus dem sonnenstrahl, der durch den dreck am fenster brach. sie riss all das an sich und fühlte sich zu größerem berufen. ahnte ihre bedeutung für die welt. ihr selbst stand alles deutlich zu gesicht, doch ihren lieben gab sie rätsel auf. sie merkte, dass keiner sie verstand und fing zu schreien an. die herbeigerufene freundin wurde gebissen und gekratzt. vor ihrem mann machte sie sich unnötig nackt. bis er den notarzt rief, um die dinge nicht kompliziert werden zu lassen. dieser verabreichte ruhe und bat sie freundlich in seinen bus.

nun ist sie auf station 3, von alleine kommt sie nicht heraus. der tägliche pillendienst duldet keine widerrede. schluck oder seance mit dem chef des hauses. sie wandelt täglich durch die gänge, streift dabei die suchenden. einer davon wäscht sich nie, die sneakers bleiben auch nachts an seinen füßen. ihr ist inzwischen fast alles egal. geblieben ist die sehnsucht. sie bittet stetig darum, den heilpraktiker mit den sanften händen sehen zu dürfen. und den entwickler ihrer person. ihr mann möge bitte einen simultanbesuch arrangieren. ihr körper hat die erinnerung glänzend gespeichert. wie der masseur ihrem leib bis in die finger druck zuführte. sie wollte unter seinen händen sterben, so ganz und gar war das glücksgefühl, das er ihr bei seinen besuchen vermachte. an dem coach konnte sie ihre kindheit abtrainieren, sie endgültig überwinden. sich vor ihm aufbäumen, als kobra, nicht als schulkind. versuchen, seinem männlichen charme nicht mit lächeln, sondern mit glaubwürdigkeit zu begegnen. ihn dazu bringen, sie ernst zu nehmen, statt ihr väterlich mit der kalten schulter zu begegnen.

diese männer sind ihr behutsamkeit und sicherheit. im medikamentendelirium wünscht sie sich nichts sehnlicher, als an diese energien anzudocken. sie würde hand in hand mit ihnen im park spazieren gehen, wärme und kraft an jeder seite. die beiden würden sie unter garantie hinausführen aus diesem tal des anstaltsleben. würden ihr den weg weisen zur freiheit und dabei alle normen übergehen. sie würden dem chefarzt eins auf die rübe geben und mit ihren schlüsseln türe öffnen. die sehnsucht des mädchens ist grenzüberschreitend.

zu diesem zeitpunkt bekam die patientin m. mit ausnahme ihres gatten und bis auf weiteres besuchsverbot.

© Friederike Hermanni, 2020

Veröffentlicht inProsa

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