Stabsstelle Freiheit

Die Behörden hatten ihr ein Dokument geschickt. Schwarz auf weiß hatte man sie von allen Zwängen befreit. Ein Beamter in der Hauptstadt hatte sogar mit blauer Tinte unterschrieben. Dieses Schreiben hatte sie neben ihr Bett gehängt, damit sie diesen Umstand nicht aus den Augen verlor.

„Sehr geehrte Frau M.!

Wir haben ihren Antrag geprüft. Sie sind von nun an ein freier Mensch. Vergessen sie das nie!

Mit freundlichen Grüßen
Stabsstelle Freiheit, Abteilung Lebenszeit, gez. Müller

Jahre war das nun her, noch immer stellte sie sich den Wecker auf 6, nahm ihr Mittagsbrot um 12 ein, das Abendessen um 18 Uhr. In den Zeiten dazwischen ordnete sie ihre Papiere, erledigte Dinge, die erledigt werden mussten. Rief Institutionen an und bat mit amtlicher Stimme um Auskunft oder stellte Sachlagen klar. Zum Feierabend hin ging sie einmal um den Block, trank ein Glas Wein oder schickte einem Bekannten eine Nachricht, um ihr Sozialleben in Gang zu halten. Montags fing die Woche an, freitags ging sie zu Ende. Am Wochenende ging Frau M. in den Supermarkt und in den Baumarkt, putzte ihr Klo und erholte sich von der Woche.

Nach fünf Jahren lag erneut ein Brief von der Behörde in ihrem Postkasten.

„Sehr geehrte Frau M.!

Wenn Sie nicht sofort damit anfangen, frei zu sein, kürzen wir Ihre Lebenszeit um die Zeitspanne, die Sie damit zugebracht haben, zwanghaft ihre To-Do-Listen abzuarbeiten.

Wir bitten um baldige Zusendung einer Dokumentation ihrer Freiheit. Die Gestaltung bleibt Ihnen überlassen.

Mit freundlichen Grüßen
Stabsstelle Freiheit, Abteilung Lebenszeit, gez. Müller

Frau M. las das Schreiben und verfiel in Panik. Freiheit hatte nie auf ihrem Lehrplan gestanden. Nie hatte sie ausprobiert, wie ein Mensch am Morgen ohne Wecker aufwachen kann oder wie man wie ein Kind fröhlich über den Bürgersteig hopst, auch wenn die Leute zuschauen. Keiner hatte ihr je gezeigt, wie man mit Zuckerwatte jongliert, die Welt mittels eines Zitronenfalters umrundet oder mutig fremde Männer auf Marktplätzen küsst. Auch nicht, wie man die Uhren in die Gosse wirft.

Frau M. verfasste ein Schreiben an die Behörden, dass sie die Freiheit zurückgeben wolle. Sie wolle schließlich nicht zu früh versterben.

© Friederike Hermanni, 2022

Veröffentlicht inProsa

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2 Kommentare

  1. Liebe Friederike,
    ich sehe die Falter und Zitronen über uns flattern, um uns hinweg zu tragen von unseren eigebildeten Verpflichtungen.
    Vielen Dank für diese Zeilen, die so gut in diese Zeit passen.
    Herzlich die Schreibwolf

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