Irgendwo vergessen

Gestern Abend habe ich sie verlegt, die Angst. Plötzlich war sie nicht mehr da wo sie immer ist, in meiner Jackentasche über dem Herz, eingewickelt in rotem Satin, damit sie beim Zittern nicht so einen Krach macht. Seidenpapier wäre da ungünstig. Gestern also, ich wollte gerade in die Straßenbahn steigen, legte ich beherzt wie immer vor solchen Unternehmungen die Hand auf die Brust, die rechte, um mich zu vergewissern, dass sie auch da ist, meine Angst.

Meine Angst vor fremden Dingen, vor neuen Situationen, vor rasanten Geschwindigkeiten, vor dunklen Gestalten, die mir ans Geld und ans Lächeln wollen, vor dem Leben, vor der ganzen Welt. Mit einer gut kultivierten Angst in meiner Jackentasche fühle ich mich im Notfall immer sicher. Die bedrohliche Außenwelt ist zwar präsent, aber meine Angst, die ist stets griffbereit und redet mir leise zu, dass sie als meine notwendigste Emotion ja bei mir ist.

Aber gestern Abend, da war sie verschwunden. Sie war nicht mehr da, die Jackentasche war leer. Hatte ich sie bei einer passenden Gelegenheit herausgenommen und an unpassender Stelle abgelegt? Hatte ich sie jemandem geschenkt, sie meinem Kind vererbt oder den Katzen zum Fraß vorgeworfen?

Oder hatte ich sie einfach weggelegt, verlegt, auf nimmer Wiedersehen? Weil ich sie nicht mehr brauche? Weil ich plötzlich ohne sie auskomme? Weil ich gemerkt habe, dass es schöner ist ohne sie? Dass sie mir keine Dienste mehr leistet und sich selbst meist ad absurdum führt?

Meine Hand zitterte ein wenig, doch mein Herz tat einen Satz und ich sprang in die Straßenbahn und fühlte mich frei. All of a sudden. Ich habe sie verlegt, die Angst. Ich weiß nicht mehr, wo sie ist, ich habe sie einfach irgendwo vergessen. Vielleicht bereitet sie jemand anderem jetzt eine Freude.

© Friederike Hermanni, 2021

Veröffentlicht inProsa

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1 Kommentar

  1. So schön. Macht nichts, wenn sie immer mal wieder an dein Herz zurück springt. Jetzt weiß sie ja, dass sie wieder gehen darf – und wieder kommen darf. Wie ein alter Freund, den man vor langer Zeit verabschiedet hat, den man aber – vielleicht hin und wieder nochmal braucht.

    Ursula

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