Flügelschlag

Heute Abend, in der Dunkelheit, euch ein Text aus der Septemberfeder des Morgens:

Flügelschlag

Nun duftet die Luft frisch würzig und trägt die hingewehten Rufe der schwarzen Vögel am Himmel in sich. Sie wissen am Horizont schon, wohin ihre Reise führt, auch wenn die Koordinaten schleichend verblassen. Allein eine einzige herrenlose Mücke zieht ihre verwirrten Bahnen um meinen Kopf. Die rosafarbenen, die hellroten und die roten Nelken verströmen ein zartes Zimtgefühl in ihren Terracotta-Töpfen. Die Weihnachtszeit liegt noch hinter den Bergen, doch die Blüten duften wie Vorboten einer verborgenen Welt.

            Die ersten Flugzeuge schlagen ihre Schneisen durch meinen beginnenden Tag. Eine Taube gurrt gemütlich, eine weitere gesellt sich dazu. Die Stimme der zweiten ist lauter, bestimmter, als rufe sie die jüngere zum Frühstück und zur Räson. Dazwischen emsiges Arbeiten einer anderen Vogelart, die ich nicht bestimmen kann. Mit Tiernamen kenne ich mich nicht aus, wohl aber mit den Schwingen des Vogelflugs, den Gerüchen der Dinge und all dem, was in der Luft hängt.

            Um mich herum absoluter Friede, ein Sonntag, wie er in meinem Wunschbuch steht, ein Tag wie gemacht für all die Abenteuerreisen am Himmel. Auch diese Zeiten sind sich nicht zu schade, ein Schauspiel nach dem anderen zu vollführen. Da – ein erster Morgenzug durchdröhnt die Gärten und verscheucht die wiederkehrenden Träume, die dunkel glänzen und uns fürchten lassen, dass es die Unterwelt doch gibt. Bald läuten die ersten Glocken und ich denke an die Sonntage auf Amrum, als die Dörfer ganz still waren und mein Fahrrad mich zu den einsamen Tümpeln führte, an denen ich oft noch vergebens versuchte, meine Worte in verlässliche Rahmen zu passen.

            Ein paar ruhige, heitere Zeilen über die Zeit würde ich gerne schreiben, so wie Emmanuel Carrère „[…] ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga […]“ schreiben wollte und dann bei Charlie Hebdo, der Elektroschocktherapie und den geflüchteten Jungs auf den griechischen Inseln landete.* Ein paar ruhige, weise Sätze über die Zeit, die es nicht gibt, weil sich in dem Moment, in dem ich hier auf der Erde sein darf, alles verdichtet in mir. Ein gedichtetes Leben, das wie in einer Spirale aus der Tiefe wächst, die anderswo ihre Wurzeln hat, nicht nur in meiner Brust. Das von weit her kommt und alles und alle umfängt, die wir hier herumkrabbeln wie die Ameisen, die nur ihr Leben sichern wollen. Ich spüre, wie die Zeit sich in den angefärbten Erinnerungsballons langsam auflöst. Die Ballons, die in mir ihren Ankerplatz suchen.

            Wann haben wir damit angefangen, unsere Leben in kleine Häppchen zu zerschneiden? Wie sind wir dazu gekommen, diese kleinen Zeiteinheiten bis zum Zerbersten anzufüllen mit unseren täglich zu verrichtenden Abläufen, die bald der Hälfte der Menschheit Magengeschwüre bereitet? Der Hälfte, die alles verdrängen muss. Wann haben wir damit aufgehört, uns die Zeit zu nehmen, unseren Morgenkaffee mit den Krähen am Himmel zu trinken, bis auch wir bereit waren für den Tag?

            Wir haben die Zeit entdeckt, weil sie dabei half, den Output zu erhöhen und allen eine warme Mahlzeit am Tag zu garantieren. Mit der Zeit konnten wir endlich die engen Räume aufbrechen, in denen die Menschen eingepfercht zwischen ihrem Nachwuchs und den Ziegen nachts in ihren Betten lagen und keinen Raum fanden, sich gegenseitig in Ruhe die angenehmen Körperteile zu streicheln. Manchmal schob sich damals nur ein Bein über das andere, bis sich eine*r der beiden die Hand vor den Mund halten musste, um den Nachwuchs nicht zu wecken. Doch mit der Zeit bequem in der Hosentasche und später am Handgelenk und noch später im Ohr schuf die Menschheit sich einen Zustand, in dem ab sofort die Zeiger den Takt des Lebens bestimmten und nicht mehr die Sonne oder die Musik.

            Ich habe an diesem Sonntag die Uhr an der Wand in eine andere Richtung gedreht, um mich nicht von mir selbst zerfetzen zu lassen. Ich habe beschlossen, den Blick fest auf die Vögel auf den Schornsteinen der gegenüberliegenden Häuserblocks zu richten und dem Gemurmel der Tauben zuzuhören bis ich so wach bin, dass ich an diesem Tag endlich ein bisschen mit den Flügeln schlagen kann.

* Emmanuel Carrère (2022): “Yoga”, 2. Aufl., Berlin: MSB, erster Satz S. 9.

© Friederike Hermanni, 2023

Veröffentlicht inProsa

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2 Kommentare

  1. Ach, wie schön, wie entsetzlich, wie hoffnungsvoll…
    dieser Text sollte jeden Montag morgen vorgelesen werden, in jeder Schule, in jeder Fabrik, in jedem Büro, in jedem Krankenhaus, in jeder Autowerkstatt, an jeder Bushaltestelle, damit wir endlich zu Flüchtenden würden und wieder Heimat fänden in unserer Welt.

  2. Liebe Sandra,
    Du sagst es: wenn wir alle wieder Heimat fänden in unserer Welt! … lass uns nicht nur davon träumen, lass uns die Zustände auch weiterhin durch unser Schreiben verändern, und wenn es ein paar Worte auf dieser Seite sind. Ich danke Dir!
    Liebe Grüße von Poetin zu Schreiber*in
    G*F

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