Fenster der Nacht

Fräulein Frisch war eine Getriebene. Tagsüber hetzte sie durch die Welt, erledigte Dieses und Jenes, kümmerte sich um die Dinge, die getan werden mussten. Drückte Knöpfchen, führte Listen, hakte Punkte ab. Regulierte Abläufe, kontrollierte den Alltag, mühte sich ab. All das war nötig. Sie musste so leben, um alles zu schaffen. Alle lebten zu dieser Zeit so. Es herrschte ein allgemeines Werken, ein wildes Treiben, ein orchestriertes Funktionieren, geschlafen wurde wenig. So konnten die Datenströme am Leben gehalten werden. Die Zahnräder drehten sich, es ging voran.

            Fräulein Frisch machte all dies munter mit, war sie doch so aufgezogen worden, kannte es nicht anders. Arbeiten, Tun, Machen, abends und in der Freizeit hektische Vergnügungen, so war es schon immer gewesen. Mit den Jahren bemerkte Fräulein Frisch seltsame Veränderungen an sich. Ihr Körper war langsam mutiert, hatte eine runde Form und eine metallische Beschaffenheit angenommen, an ihrer Außenseite waren kleine Häkchen gewachsen. Sie drehte sich plötzlich nur noch im Kreis, im Takt mit den anderen Menschen, die ebenso aussahen. Alles lief reibungslos. Nur ein leises Knackgeräusch war zu hören, wenn die Räder geschmeidig ineinandergriffen.

Fräulein Frisch fühlte sich als Teil dieser Mensch-Maschine wohl. Nachts, von Mitternacht bis zum Sonnenaufgang hielt das Konstrukt inne. Die Männer, die es überwachten, mussten schlafen. Noch hatte keine KI diese Funktion übernehmen können, noch waren die Interaktionen von Mensch und Maschine zu komplex, noch passierten zu viele Fehler.

Normalerweise merkte Fräulein Frisch nicht, wenn die Maschine stillstand, wenn sie schlief. Aber in dieser Nacht, in der Nacht, als in der Welt die Dinge kulminierten, als Kriege ausbrachen und die Systeme implodierten, da wachte Fräulein Frisch auf. Spürte ihre Verzahnung mit dem System. Und spürte auch, dass sich ein paar Schrauben gelockert hatten. Dass sie sich bewegen konnte. Sie ruckelte ein wenig in die eine und ein wenig in die andere Richtung, spannte ihre Muskeln an und sprang aus dem System. Durch die Dachluke schien der Vollmond.

Sie blickte umher und wurde gewahr, dass sie wieder einen menschlichen Körper angenommen hatte. Sah eine Leiter am anderen Ende des Raumes, in dem die Mensch-Maschine stand. Auf dieser Leiter kletterte sie hoch zu der Dachluke und guckte in den Nachthimmel. Und da hingen sie am Himmel, die gewaltigen Zeitfenster. Mit Aussicht auf die Sterne und die Musik, Marshmallows und Märchen. Die Welt war schön und die Dinge schmeckten süß.

Zu „Run“von Ludovico Einaudi & I Virtuosi Italiani/Album In a Time Lapse/2013

© Friederike Hermanni, 2022

Veröffentlicht inProsa

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8 Kommentare

  1. Oh je, das könnte ich sein, war mein erster Gedanke. Eine fleißig Funktionierende in der Maschinerie des Alltags. Am Ende die Erlösung: Sie findet den Ausstieg, die Fräulein Frisch. Noch verharrt sie oben an der Dachluke; wird sie ganz aussteigen, von den Marshmallows kosten, neue Märchen erzählen, ihre eigene Melodie spielen, jenseits der Maschinen? Sie hat es jetzt in der Hand. Ich drücke ihr die Daumen. Und allen, die es ihr gleichtun möchten.

    Alles Liebe B.

  2. Deinen Text finde ich noch besser als die schöne Musik, die ich jetzt auch kenne!
    Danke😘

  3. Welch gewichtige, schillernden Bilder hier die Schreiberin zaubert! Ich sehe alles deutlich vor mir…und klettere hinauf mit mit ihr zu dem Funkeln.

    Wahrlich ein großartiger Text!

    Der Schreibwolf

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