Eine Frau steht auf

Sie ist aufgestanden. Einfach weggegangen. Raus in die Welt. Dorthin, wo die Dinge passieren. Wo Häuser brennen und Krankenhäuser in sich zusammenfallen. Wo zuerst mit Kalaschnikows geschossen wird. Und dann mit Fotoapparaten. Um das Grauen festzuhalten. Um später darüber richten zu können. In einer anderen Zeit. In einer anderen Welt. Morgen. Wenn die Dinge wieder besser sind. Wenn die Menschen wieder freier sind.

            Jetzt also hat sie den Raum mit dem orangefarbenen Resopalstuhl erst einmal verlassen. Lange hatte sie dort gesessen und auf die Wände mit dem abblätternden Putz gestarrt. Hatte gehofft, dass sich irgendetwas ändern würde. Dass sie einen Dreh finden würde für das Zeug in ihr. Das manchmal zu Gedanken wurde. Zu Gedanken ohne Anfang und Ende. Die einen mittleren Schrecken in sich trugen. Sie hatte gehofft, dass die Dinge sich durch das stille Sitzen beruhigen würden. Sie hatte gehofft, die Farbe des Stuhls würde dem Ganzen eine Richtung geben. Im Schlussakkord eine Ordnung in ihrem Hirn. Das hatte sie gehofft. Und hatte gesessen. Und hatte gewartet. Über Wochen war das so gegangen. Alle paar Stunden hatte man ihr eine Fünf-Minuten-Terrine gebracht. Etwas Martini. Nachts hatte sie sich auf einer Matte am anderen Ende des Raumes ausgestreckt. Sich mit dem Trenchcoat zugedeckt. Geträumt. Wilde Träume, in denen alles in einem schlüssigen Finale kulminierte.

            Nach 7 ½ Wochen hatte sie genug gehabt. Nichts Nennenswertes war an ihr haften geblieben. Keine Einsicht. Keine Konklusion. Draußen in der Welt würde sie wieder Stein auf Stein setzen können. Wort an Wort reihen können. Manchmal einen klugen Satz von sich geben, der alles radikal verändern würde. Der einen Umsturz mit sich brächte. Der die Waffen zum Schweigen bringen würde. Sie ist aufgestanden. Einfach hingegangen zur Welt.

© Friederike Hermanni, 2022

Veröffentlicht inProsa

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2 Kommentare

  1. Danke für den nachdenkenswerten Zyklus.
    Danke, für das heilsame die-Welt-auf-den-Kopf-stellen und wieder in eine lotrechte Position bringen.
    Danke für deine Gedanken und Sicht auf die Dinge.

    1. Ja, die drei Texte sind Variationen zu ein und demselben Thema … eine Frau in ihrem Verhältnis zur Welt und den verschiedenen Ebenen, sich mit dieser zu verbinden…!

      Alles Liebe
      Friederike

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