Die Auflösung

Das Stück “Finding Voice“ von Laurie Spiegel/Album: Unseen Worlds/1991 bildete den Hintergrund für diese Zeilen:

Die Auflösung

Die Nacht ist schwarz und ich stehe auf meinem Aussichtsturm und warte. Warte, dass sie mich abholen. Ich friere, bin nur mit einem dünnen, weißen Hemd bekleidet und habe alles hinter mir gelassen. Den Küchentisch, die Spiele, den Garten mit den Totengräbern. Bevor ich hierher ging habe ich aufgeräumt, wollte alles geordnet hinterlassen. Habe mich von den Blumen, den Menschen, den vertrauten Horizonten verabschiedet, um mich endlich holen zu lassen.

         Und dann kommen sie. Sie reiten auf Lichtstrukturen, die so hell sind, dass sie mich blenden. Ich kann ihre Augen nicht erkennen, weiß nicht einmal, ob sie Gesichter haben. Ahne, dass auch ich meine Haut werde abstreifen müssen. Das Hemd ausziehen, alle Hüllen abstreifen, die ich im Laufe meiner Zeit hier angelegt habe. Und ich höre Klänge, synthetische Musik aus einer großen Ferne.

         Da kommen sie, greifen mich, heben mich empor, nichts tut weh, die Luft fühlt sich frisch an, kommt ein Sturm auf? Ich spüre, dass ich getragen werde. Dass die Luft immer klarer wird und dass alles Schwere von mir abfällt. Nach einer geraumen Zeit, ich bin schon fast nicht mehr da, bemerke ich, dass da noch Andere sind. Ohne Form und Gestalt, aber dennoch da. Die Klänge tragen mich oder das, was noch von mir übrig ist, immer weiter nach oben. Ich bin nicht mehr allein. Vielleicht nie mehr allein. Da ist niemand mehr übrig, der allein sein kann. Und ich weiß, dass das, was ich hinter mir lasse, langsam, wie in Zeitlupe, zerfällt.

© Friederike Hermanni, 2024

Veröffentlicht inProsa

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2 Kommentare

  1. Liebe Gesine/Friederike!
    Puuh, wie düster, wie schwer. Der Text macht mich traurig. Vielleicht ist er von Dir nicht so gemeint. Für mich weckt er Erinnerungen an den Suizid eines sehr nahen Angehörigen vor vielen Jahren.
    Liebe Grüße, Gabriele.

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