Solange

Solange

aus den Zitronenbäumen des Sommers gezupft
in die herbstliche Milch gerührt
auf die Holzmauern des Winters geschichtet

habe ich all die Vehikel im Höhenflug
die wiederentdeckten Seerosen
die Stromschnellen

um sie blindlings und undercover
in Gold umzuschlagen
– solange noch Zeit bleibt

© Friederike Hermanni, 2023

Vielleicht

Vielleicht

behutsam öffne ich den Deckel der verblühten Zeit
das Wasser von dem ich träumte
schwerer als Granit und Saphir
die Mondjahre die wir teilten
behüteten unsere Worte voll Blut

bald werde ich zum Spiegel der vergangenen Zeit
trage sie nachts zum Meer
wo Morgenrot uns sein Versprechen schenkt
– noch kann ich mich nicht vertäuen
doch bald – vielleicht


© Friederike Hermanni, 2023

Vogelburg

in der Vogelburg sind wir zuhause
da gibt es Höhlen und Kuhlen
die wir der Welt vorenthalten

die Vogelburg ist unser Zuhause
da gibt es Musik und abends ein Eis
da werden wir niemals erfrieren

die Vogelburg birgt unsere Schätze
da hüten wir unsere Visionen der Welt
sie tragen uns durch den Winter

die Vogelburg wiegt uns nachts in den Schlaf
da behüten wir unsere Wunden
da sind die Knüppel der Welt ganz weit

in den Bäumen finden wir Zuflucht
da dröhnen die Maschinen nicht laut
die Vogelburg wird nie verschwinden

Am Tag der vollständigen Räumung von Lützerath allen
Baumhausbewohner:innen dieser Erde gewidmet
& mit Dank an Hans Arp für die Skulptur „Vogelburg“
(Château des oiseaux, 1963).


© Friederike Hermanni, 2023

aus Papier

aus Papier

du kannst mich nach Hause tragen
wenn ich verblute
wenn meine Welt zerfällt
oder wir sie selbst zerlegen
mit wachen Augen
siehst du die Fehler im System
legst deine Finger in die Wunden
meines Lebens zwischen den Seilen
aus Papier

© Friederike Hermanni, 2023

Der Stoff

Leicht berührt hatte sie der Stoff
der durch die Jahre flog
leicht wie ein Wind

Sanft berührt hatte ihn der Stoff
den sie auf ihrem Rücken trug
zart wie ein Kind

Leicht berührt hatten sie die Flügel
die sie durch die Jahre trugen
vorsichtig wie Zauber*innen

Noch nicht geküsst hatte sie die Welt
die sie in sich erschuf
behutsam die Magierin

Geküsst hatte sie der Wind
der in den Jahren alles in sich trug
das sie in sich gefunden

© Friederike Hermanni, 2023

Der Anfang

Ich bin alt
war immer schon da
bin allgegenwärtig
werde immer da sein

Ich sehe euch zu
lebe in euren Tagen und Nächten
höre eure Stimmen
teile eure Angst

Ich weiß um euch
habe alles gesehen
auf Hochzeiten getanzt
die bösen Träume durchwacht

Ich werde wahr
in euren Taten und Gedanken
was wird liegt ganz allein
bei euch

Ihr wisst all das nicht
schickt Raketen zum Mond
verzweifelt am Tod
der doch nur der Anfang ist

© Friederike Hermanni, 2022

Eines Tages

WOW – das Herz öffnet sich wie ein Palastsaal – die Kronleuchter aus Kristall funkeln – das Parkett glänzt – draußen eine Schar Friedenstauben am weit geöffneten Himmel – der Stern gibt sein Bestes – Menschen weigern sich, Bomben abzuwerfen – der Fliegerhorst bleibt ruhig – Soldat:innen ziehen ihre Uniformen aus – Haubitzen schmelzen in der Sonne – die Granaten sind mit Konfetti gefüllt – der alte Mann stirbt an Herzinfarkt – die Fernsehbilder zeigen Blumen – bunte Fahnen auf den Dächern – die Regierung verteilt Sachertorte – die Münder der Kinder sind mit Schaumküssen verschmiert – die Leute ziehen ihre Glückskleider an – malen sich Schönheitsflecken auf die blasse Haut – die Lippen rot – der Taft knistert beim Tanzen – alle besaufen sich an der Freude – ZUSÄTZLICH: – jede:r hat genug Brot, Salz und Wein – alle COs-Schleudern werden durch Zeppeline ersetzt – oder durch Heißluftballons – die Nachbarn und Nachbarinnen dieser Welt fallen sich in die Arme – die Bäume verlieren ihre Angst.

© Friederike Hermanni, 2022

BALKON 1.-4.

NATURBEOBACHTUNG

  1. ein Murmeln der Unbekannten
    Flugzeuge am Himmel verwaist
    da: eine entschiedene Männerstimme
    ein Motorrad trumpft auf ich denke an ihn
    Verabschiedung da draußen
    eine Tür fällt ins Schloss etwas geht zu Ende
    im Untertitel dröhnt die Stadt

  2. zerzupfte Wolken über dem Garten
    unbesehen schiebt sich Blau dazwischen
    Trompetenbäume setzen auf Hoffnung
    und doch vertrocknen Sommerreste in Kästen

  3. träge Luft des Sommers
    eher Juli als klarer August
    fader Duft des Kaffees lässt mich schlafen und vergessen
    irgendwie Plastik und immer der Rosmarin

  4. die Luft ist heute zärtlich zu mir

© Friederike Hermanni, 2022

Ohne Angst

Ohne Angst wäre da die Lust, Weinbrand aus Wassergläsern zu trinken
Ohne Angst vor dem neuen Morgen würde ich in Himmeln schwanken

Ohne Angst würde ich mit den Wolken fliegen, mit den Vögeln ziehen
Ohne Angst würde ich mit Fallschirmen springen
Ohne Angst würde ich auf Kap Horn landen[1]

Ohne Angst würde ich das Schild „Zutritt nur für Hafenarbeiter“ übersehen
Ohne Angst würde ich mich auf das Firmengelände von Cargo Unlimited trauen
Ohne Angst würde ich nachgucken, was in den MAERSK-Containern eigentlich drin ist

Ohne Angst würde ich Metall aufschweißen
Ohne Angst würde ich Kisten öffnen
Ohne Angst würde ich in Holzwolle wühlen

Ohne Angst würde ich die Osborne 103 liebevoll in die Hände nehmen
Ohne Angst würde ich mich am Industriehafen auf die Kaimauer setzen
Ohne Angst würde ich mir das Leben schöntrinken

Ohne Angst würde ich dem Blick des Hafenarbeiters begegnen
Ohne Angst wäre da die Lust, Weinbrand aus Wassergläsern zu trinken


[1] Kap Horn, die Straße in Gröpelingen/Bremen, keineswegs Kap Hoorn in Südamerkika

© Friederike Hermanni, 2022

Wandel

Trotz allem ein Vortasten
ein Fühlen was gut ist
Anprobe von Langsamkeit
die mir Luft lässt

So behutsam die Dinge
wenn ich einfach nur bin
lebe am Rande der Zeit
wo das Moos schon erblüht

© Friederike Hermanni, 2020

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